Sinnestäuschung im Unterricht?

Es scheint verbreiteter zu sein als man denken würde, dass im Unterricht nicht nur der Grundschule, sondern auch im Gymnasium Kolleginnen und Kollegen meinen, ihren Schülern Beweise dafür liefern zu müssen, dass die Sinne täuschen, ja, dass der Mensch unzulänglich ist.

Als Beweismittel scheint den Kolleginnen und Kollegen erstaunlicherweise das Experiment mit den drei unterschiedlich warmen Wasserbecken besonders geeignet zu sein.

Dass genau dieses Experiment in ganz präziser Weise dazu geeignet ist, zu beweisen, dass Hände in verschieden warmem Wasser genau so objektiv arbeiten wie zwei Thermometer, sollte auf dieser Seite unter sinnestäuschung-gibt-es-nicht.de/st_teil1.html gezeigt werden.

Der anschließende Text, der eine entsprechend bizarre Situation aus dem Unterricht dokumentiert,
ist entstanden, weil der von mir sehr verehrte Thomas Göbel, einer der wirklich bedeutenden Goetheanisten, schon als Schüler gegen die Indoktrinierung durch die Idee der Sinnestäuschung opponiert hat.
Der Text wurde seiner Autobiographie „Mein Leben“, Privatdruck S. 74 – 76 entnommen. Herausgeberinnen: Nana Göbel und Hanne Weißhaupt 2008

 

„Auch die Wärmelehre kam in der Physik dran und Herr Lücke
teilte dort einmal mit, dass sich der Mensch auf seine Sinne nicht
verlassen könne, sie seien subjektiv und eine objektive Wahrnehmung
gäbe es nicht, wie der nun folgende Versuch zeigen sollte. Er
stellte die bekannten drei Töpfe auf, einen mit heißem, einen mit
kaltem Wasser und dazwischen einen Topf mit mittlerer Temperatur.
Ich muss mich wohl gemeldet haben, um mitzuteilen, dass ich
nicht glauben könne, dass mich meine Sinne betrügen. Also wurde
ich nach vorne gebeten, hatte die eine Hand ins heiße, die andere
ins kalte Wasser zu halten und nach einiger Adaptionszeit beide in
den Topf mit der mittleren Wassertemperatur. Schließlich fragte
mich Herr Lücke: «Spürst Du nun mit beiden Händen die mittlere
Temperatur?», und ich musste zugeben, dass die eine Hand warm,
die andere Hand kalt empfand. Er triumphierte nicht, sondern erklärte,
nicht eine subjektive naive Haltung könne der Mensch gegenüber
den Tatsachen der Physik haben, sondern er habe zu prüfen,
zu experimentieren und sich daran ein Urteil zu bilden.
Ich ging mit einem schlechten Gefühl nach Hause. Mein Verstand
musste Herrn Lücke Recht geben, aber mein Herz sagte etwas
anderes. Ich wollte bei der Überzeugung bleiben, dass mich
meine Sinne nicht betrügen würden. So ließ mich der Zwiespalt
zwischen Herrn Lückes Urteil und meiner Gefühlsüberzeugung
nicht los und ich fragte Herrn Lücke, wenn die Wahrnehmungen
durch die Hand falsche Ergebnisse liefern, wie soll man sich dann
verhalten, und er sagte, im Experiment habe man statt der Hände
Thermometer zu verwenden, die objektiv messen würden, denn
Thermometer haben keine subjektiven Empfindungen, sondern
zeigen objektiv die Tatsachen an. Das leuchtete mir ein und ich
entschloss mich, zu Hause das Experiment mit Thermometern zu
wiederholen, denn er hatte es nicht vorgeführt.
Gebadet wurde in meinem Elternhaus am Sonnabend in der Küche.
Da wurde das Wasser auf dem Herd in einem großen verzinkten
Kessel heiß gemacht und eine ebenso verzinkte Badewanne
aufgestellt, die aus dem Keller geholt wurde. Dieses Badewasser
verwendete ich für meinen Versuch und die beiden (in Holz gefassten
und deshalb schwimmfähigen) Badethermometer, die meine
Mutter hatte, wurden dazu eingesetzt. Im heißen Badewasser stieg
das Thermometer, das wohl mit rotgefärbtem Alkohol und nicht
mit Quecksilber gefüllt war, das andere sank im kalten Wasser, das
aus dem Wasserhahn gewonnen wurde. Als beide die jeweilige
Temperatur anzeigten, wurden sie in Wasser mittlerer Temperatur
gehalten, und siehe da, sie verhielten sich nicht gleich, das eine
sank und das andere stieg an. Mein innerer Jubel kannte keine
Grenzen, möglicherweise habe ich vor Begeisterung sogar getobt.
Meine liebe Mutter, die allerlei von ihrem Ältesten gewohnt war,
hat mit dem Vater gedroht, wenn ich nicht augenblicklich damit
aufhören würde. Ich habe sie nicht aufgeklärt, das habe ich überhaupt
nie gemacht, wenn sich in meiner Seele heilige Gefühle einstellten
wie hier, auch dann nicht, wenn Herumtoben vor lauter
Begeisterung die unmittelbare Folge war. Das legte sich immer
schnell und zurück blieb das heilige Gefühl, der Natur eines ihrer
Rätsel abgelauscht zu haben. Eine Art von Naturreligion bildete
sich so. Ich war aber entschlossen, es Herrn Lücke heimzuzahlen.
Mit den beiden Thermometern in der Tasche ging ich in die
nächste Physikstunde, in der Herr Lücke längst etwas anders machen
wollte. Jedenfalls reagierte er erst einmal ungehalten, als ich
das Wassertemperatur-Experiment mit Thermometern zu wiederholen
verlangte. Er fragte weshalb und ich behauptete, dass die
Thermometer genauso subjektiv reagierten wie meine Hände, und
wenn auf meine Hände kein Verlaß sei, dann auf die Thermometer
auch nicht. Er war konsterniert, war sich seiner Sache sicher und
ließ sich auf die Wiederholung des Experimentes ein.
Erst einmal machte ich darauf aufmerksam, dass meine Hände,
sobald ich die eine in das heiße und die andere in das kalte Wasser
steckte, zuerst einmal heiß und kalt spüren und dass das Gefühl
dafür abklingt, aber nicht ganz. So, zeigte ich, machen es auch die
Thermometer, eins steigt, das heißt, es wird wärmer, das andere
fällt, das heißt, es wird kälter. Steckt man nun die Thermometer in
das Wasser mittlerer Temperatur, fällt das wärmere und zeigt wie
meine Hand «kälter» an und das andere steigt und zeigt wie meine
Hand «wärmer» an, und ich frage Herr Lücke, was er dazu zu sagen
hätte. Er hatte nichts zu sagen, sondern gab mir das, was man eine
Backpfeife nennt. Er war fortan für mich erledigt; er aber hat nie
wieder versucht mich vorzuführen. Von nun an empfand er mir
gegenüber wohl ebenfalls Antipathie. Später habe ich mich mit
ihm innerlich versöhnt, das soll der Vollständigkeit halber auch
noch erzählt werden.“

Thomas Göbel

 

All diejenigen, die ebenfalls im Unterricht als Schülerinnen oder Schüler den Beweis für sog. Sinnestäuschung über sich ergehen lassen mussten, bitte ich, mir einen kurzen anschaulichen Bericht darüber zukommen zu lassen.

Michael Benner


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