Sinnestäuschung? Eine Täuschung meines Verstandes!
Quelle: "die Drei" Ausgabe 8-9/2011
Michael Benner
Dass es Sinnestäuschung gibt, ist so allgemein bekannt und anerkannt, dass es befremdlich erscheinen
mag, zu diesem Thema Papier zu bedrucken. In populären Zeitschriften findet man die gängigen
kleinen Zeichnungen, die den für jedermann sofort überprüfbaren Beweis liefern, dass man gleich
lange Striche, wenn sie denn nur geschickt genug verpackt sind, als unterschiedlich lang erlebt, ja
sieht.
So weit, so gut.
Nun müsste nur noch der antiquierte Lehrplan der Waldorfschulen umgeschrieben
werden; dann wäre die Welt wieder in Ordnung und die Waldorfpädagogik auf der Höhe
der Zeit.
– Hier wird das vermeintliche Phänomen »Sinnestäuschung« an einfachen Beispielen genau
untersucht. Weitere Beispiele folgen in den kommenden Monaten.
Was ist gemeint? In der Unterstufe lernen die Schüler z.B. als Vermächtnis von Goethe ungefähr das Folgende:
»Den Sinnen hast du dann zu trauen,
Kein Falsches lassen sie dich schauen,
Wenn dein Verstand dich wach erhält.«
Wer diesen Gedichtausschnitt nicht nur als nette Ermunterung für Unterstufenschüler in der ach so verunsichernden Welt nimmt, sondern als ernst gemeinte Aussage, der gerät an den Rand eines Problems. Sinnestäuschung sei nicht möglich, sagt Goethe und knüpft diese Aussage dann aber doch in merkwürdiger Weise an eine Bedingung:
»Wenn dein Verstand dich wach erhält.«
Also ist Sinnestäuschung unter bestimmten
Bedingungen doch möglich? Woran dies dann
im Einzelnen liegt, könnte man als Spezialproblem
für Anthropologen, Sinnesphysiologen,
Psychologen und Gehirnforscher ansehen.
Bei
genauerer Betrachtung entpuppt sich jedoch
die Frage, wodurch eine sogenannte Sinnestäuschung
oder Ähnliches entsteht, als eine
zentrale Frage für die in der Regel un- oder
halbbewusst erworbene oder eben nicht erworbene
Lebenssicherheit von Kindern und
Jugendlichen.
Wenn wir Schülern beibringen, dass ihre Sinne,
auch wenn sie medizinisch gesehen gesund
sind, sich nicht dafür eignen, zur Welt bzw.
zur Wirklichkeit einen Kontakt herzustellen;
sich nicht dazu eignen, die Welt zu erkennen,
weil sie jederzeit und für den Menschen unkontrollierbar
getäuscht werden können: Dann
muss sich ein Lebensgefühl einstellen, das ungefähr
so aussieht:
»Es ist egal, ob ich etwas
beobachte, ob ich einer Sache lausche oder
sie zu ertasten suche, denn das Ergebnis ist
wertlos. Ich weiß nicht, ob es etwas über die
Welt aussagt, oder nur über den verzerrenden,
verfälschenden Zustand meiner Sinne, meines
Körpers.«
Fragen über die Welt, wie Kinder und
Jugendliche sie unbefangen mit leuchtenden
Augen stellen können, sind dann überflüssig,
und wir sollten dies den Jugendlichen sagen,
auch wenn es schmerzt.
Sie werden sich dann von dem Weltinteresse
ab- und dem erkenntnisfreien sinnlichen, dem
sinnlosen Genuss zuwenden; denn dazu eignet
sich der eigene Körper ja durchaus auch.
Um es kurz zu machen: Es gibt keine Sinnestäuschung! Es gibt nur Fehlurteile!
Man könnte fragen: Ist das weniger verheerend?
Ja, es ist! Warum? Das Fehlurteil entsteht, wenn
die von Goethe gemachte Vorraussetzung:
»Wenn dein Verstand dich wach erhält« nicht
gegeben ist. Diesen wachen Verstand kann man
aber systematisch üben.
Anders als die Sinnestäuschung kann man
das Fehlurteil über eine sinnliche Wahrnehmung
durch intensivere Beobachtung, ergänzende
Fragestellungen und das Vermeiden vorschnellen
Schließens rückgängig machen.
Der Mensch kann sich also irren. Der Irrtum
ist aber an einer Stelle angesiedelt, an der der
Mensch intensiv arbeiten kann, bis sich seine
Urteilsfähigkeit verbessert hat. Er kann seinen
Mangel selbst beheben, denn er ist lernfähig.
Dass kann einen anspornen. Meinen Körper,
meine Sinne dagegen muss ich (weitgehend)
nehmen, wie sie sind. Wenn sie für die Erkenntnis
der Welt untauglich sein sollten, muss
ich damit leben. Dies führt zur Resignation und
oft zur Ersatzbefriedigung, zur Sucht.
Ist das Wasser warm oder kühl?
Ein gutes Beispiel ist das schöne Experiment mit
den drei nebeneinander stehenden Wasserbehältern.
Der rechte Behälter enthält kaltes, der
linke sehr warmes und der mittlere lauwarmes
Wasser. Zuerst legt man für eine Minute die
rechte Hand in das rechte und die linke Hand in
das linke Becken. Danach legt man gleichzeitig
beide Hände in das mittlere Becken.
Selbst wenn man sich das Experiment nur vorstellt,
kann man sich das Ergebnis im mittleren
Becken gut vergegenwärtigen: Die rechte
Hand, die sich zuvor im kalten Wasser befand,
wird das lauwarme Wasser zunächst als warm
empfinden. Die linke Hand, die sich zuvor im
sehr warmen Wasser befunden hat, wird das
lauwarme Wasser zunächst als kühl empfinden.
Diese Unterschiede werden mit der Zeit
verschwinden. Dann werden beide Hände das
Wasser als lauwarm empfinden.
Die (hier bewusste) Wortwahl scheint gerade
die Subjektivität der Sinneswahrnehmung
aufzudecken. Dieser Eindruck verschärft sich
noch, wenn man drei verschiedene Thermometer
in die drei Becken hält und dann z.B. als
Ergebnis 10, 40 und 25 Grad erhält.
Die sich an den gemachten Sinneswahrnehmungen
entzündenden Gedanken gehören
dann untrennbar zu den Wahrnehmungen dazu,
wenn sie sachgerecht gebildet wurden. Dies
wird deutlich, wenn man sich klar macht, dass
ohne jede Gedankenbildung nur die reine Sinneswahrnehmung
übrig bleibt. Und die erlaubt
keine Aussage. Schon die einfachste Aussage
erfordert eine Gedankenbildung. – Was sachgerecht
ist, kann nicht von einer Instanz außerhalb
des ganzen Prozesses, sondern nur aus dem
Prozess selbst heraus beurteilt werden.
In diesem Sinne kann man feststellen, dass die
Hände, die die Becken wechseln, die Wirklichkeit
in einem umfassenderen Sinn wahrnehmen,
als die drei isoliert messenden Thermometer.
Sie stellen nämlich den Zusammenhang
zwischen den Temperaturen der verschiedenen
Becken her: Im Verhältnis zum kalten Wasser
des rechten Beckens ist das lauwarme Wasser
des mittleren Beckens warm. Im Verhältnis
zum sehr warmen Wasser des linken Beckens
ist das lauwarme Wasser des mittleren Beckens
kühl. Dies sind Tatsachen, und genau diese
werden von den Händen bzw. dem sich ohne
Theorie an die Sinne anschmiegenden Verstand
wahrgenommen.
Die sich anschließende Gedankenbildung führt
mir die Tatsachen ins Bewusstsein. Führt man
das Experiment mit zwei Thermometern so
durch, wie das Experiment mit den zwei Händen,
so zeigt sich bei ganzheitlicher Betrachtung,
dass die Thermometer genauso reagieren
wie die Hände: Das Thermometer, welches aus
dem kalten in das lauwarme Wasser gewechselt
wird, steigt. Das Thermometer, welches
aus dem sehr warmen Wasser in das lauwarme
Wasser gewechselt wird, fällt.
Noch einmal: Die beiden Thermometer, gleichzeitig
in das lauwarme Wasser getaucht, verhalten
sich unterschiedlich. Das eine Thermometer
steigt, das andere fällt. Für einen Moment
könnte es dem, der sich im Urteil unsicher fühlt,
so scheinen, als ob auch die Thermometer, wie
vorher die Hände, subjektiv arbeiten würden.
Da es ein technisches Gerät ohne Bewusstsein
ist, spricht aber wenig für diese Überlegung.
Dennoch entsteht an dieser Stelle die Versuchung,
den beobachtbaren Vorgang des Steigens
und Fallens als Zwischenergebnis wegzulassen
und sich nur auf den scheinbar objektiven Endzustand
der gleichen Temperaturanzeige beider Thermometer zu konzentrieren.
In Wahrheit messen aber auch die Thermometer,
wenn man die Versuchsanordnung entsprechend
wählt, den Zusammenhang der verschiedenen
Temperaturen. Das Ergebnis ist bei
beiden Versuchen (mit zwei Händen und mit
zwei Thermometern) gleich objektiv.
Nach einiger Zeit zeigen beide Hände und beide
Thermometer im mittleren Becken die gleiche
Temperatur an.
Resumé
Die erste Aussage, dass nämlich die Sinne (hier
der Wärmesinn) getäuscht worden sind, entpuppt
sich als ein Fehlurteil im doppelten Sinn.
Zum einen liegt hier ein methodisches Fehlurteil
vor, zum anderen ein inhaltliches.
1. Die Sinne sind ein Teil der sinnlichen Welt und ohne Möglichkeit der Distanzbildung in diese eingebunden. Sie werden durch Wärme, Druck oder Geräusche »angegangen« und »erleiden « diese. Zu einem Urteil sind die Sinne nicht fähig, also auch nicht zu einem Fehl-Urteil, Sinnestäuschung genannt.
2. Das auf den Inhalt des Experiments bezogene Urteil: Die Sinneswahrnehmung sei subjektiv, da die Hände ja bei ein und der selben Temperatur des mittleren Beckens Unterschiedliches empfinden würden, ist ein Fehlurteil, da der Vergleich mit den Thermometern, wenn er denn nur zu Ende gedacht wird, zeigt, wie hochpräzise die Hände den Zusammenhang mit der konkreten Welt herstellen.
Nun kann in der Oberstufe aufgeatmet werden. Das, was in dem zunächst gemüthaft erscheinenden Goethegedicht den Unterstufenschülern Lebenszuversicht vermitteln soll, kann auf Oberstufenniveau philosophisch-erkenntnistheoretisch durchdacht und nachgewiesen werden. So wird nicht nur durch den wach erhaltenen Verstand ein einheitliches Weltbild wiederhergestellt, sondern eine Chance eröffnet, berechtigterweise die Jugendlichen und Kinder zu einem Weltinteresse anzuregen, das sie sich mit der ganzen Welt in verstehender Weise verbinden lässt. In politische Kategorien übersetzt, kann aus einem menschlichen Weltinteresse, d.h. aus einem Interesse am Anderen und am Anderssein, Frieden erzeugt werden.
Schweben oder liegen die Kugeln?
Lässt man den Blick ohne innere Vorbereitung
und ohne Fragestellung auf die beiden Abbildungen
fallen, wirkt die untere so, als ob die
vier Kugeln über dem Brett schweben, während
die Kugeln der oberen Abbildung auf dem Brett
zu liegen scheinen. Das liegt an der Position
des Schattens.
Schweben, liegen, Schatten – alles Begriffe, die
den Sehvorgang leiten. Das geschieht bevorzugt
dadurch, dass man Beziehungen, d.h. Kontext
herstellt. Hier konkret setzt man unwillkürlich
die Kugeln bzw. die rotbraunen runden Gebilde,
die durch die Zeichentechnik wie Kugeln
erscheinen, zu den ovalen, grauen Flecken so
in Beziehung, dass letztere wie Schatten der
ersteren wirken.
Eine Notwendigkeit gibt es dafür nicht. Das
bemerkt man, wenn man mit eigenen Fragestellungen
und Experimentierlust erneut in die
Bildbetrachtung einsteigt.
Vergleicht man die Lage der Kugeln in der oberen
und der unteren Abbildung, entdeckt man,
dass diese jeweils an der gleichen Stelle liegen.
Als nächstes kann man die unteren Kugeln im
Verhältnis zu den Flächen, über denen sie zunächst
zu schweben schienen, mit der Intention
anschauen, dass sie, wie oben, auf den
fleischfarbenen Feldern liegen (sollen). Im gleichen
Moment verlieren die grauen Flächen ihre
Bedeutung als Schatten. Sie werden zu grauen
Ovalen degradiert, die ohne weitere Bedeutung
vor den Kugeln auf den Feldern liegen. Dies
wiederum verstärkt den Eindruck, dass die Kugeln
auf der Platte aufliegen.
Zusammenfassend kann man also sagen, dass
durch mehrmaliges bzw. wechselseitiges Entkoppeln
die zunächst wirksamen Zusammenhänge
(Sehgewohnheiten) abgebaut, sozusagen
vernichtet werden. Diesen Prozess kann man
ebenso intentional bzw. willkürlich umkehren
und dadurch die ursprüngliche Wirkung wieder
herstellen. Daran kann man sehen, dass es
sich bei den verschiedenen Sichtweisen nicht
um eine optisch-sinnliche Wahrnehmung handelt,
sondern um eine Interpretation, d.h. um
Begriffe, die das Sehfeld ordnen und deuten.
Der Sehsinn bzw. das Auge ist also nicht getäuscht
worden.
Das Auge sieht, volle Funktionstüchtigkeit vorausgesetzt,
stets das, was zu sehen ist: Farbflächen
und Helligkeitsunterschiede – nicht mehr,
aber auch nicht weniger. Fehlleistungen sind
hier grundsätzlich ausgeschlossen.
Alles andere, was man sieht, sind Interpretationen
bzw. als Kulturleistungen gebildete
Begriffe, die man, entsprechende Übung und
Experimentierfreude vorausgesetzt, variieren
kann. Hier können auch echte Fehler bzw.
Fehlurteile vorkommen. Diese sind aber stets
reparabel.
Mit Intention zu sehen ist nur möglich, wenn die Sehgewohnheiten nicht mit festen Schaltungen im Gehirn erklärt werden müssen.
Auf dem unteren Schachbrett scheinen die Kugeln zu schweben. Dennoch liegen sie auf beiden
Brettern an
der gleichen Stelle. Wie entsteht diese Täuschung? – Aus: Daniel Picon: Optische Täuschungen, Köln 2005
Sinnestäuschung: Nein danke! Über
den Fortschritt der Diskussion und der Ausstellung
wird diese Internetseite informieren:
www.sinnestäuschung-gibt-es-nicht.de |